Kreide im Weinbergboden statt Kreide in der Stimme. Eine Rehabilitationsschrift

Anlassflaschenöffnung

Herr Rudolf hat schon mehr gelacht, aber vergehen tut es ihm so schnell nicht. Seitdem klar ist, dass man durch den Verzehr größerer Mengen von Kreide Wahlen gewinnen kann, hat auch sein Lieblingsarbeitsmittel einen schalen Beigeschmack. Andererseits, was kann die Kreide dafür? Zur Rehabilitation des Rufes der Kreide kredenzt Rudolf Polifka diese Woche Kreide, weingewordene Kreide. Kaum anzunehmen, dass die so wirkt wie die verzehrte Kreide in Reinform. Und im Fall unerwünschter Nebenwirkungen fragen Sie halt den Wahlplakatdichterfürsten.

Wieder einmal Erdzeitalter

Die Kreidezeit hat vor etwa hundertfünfunddreißig Millionen Jahren begonnen, vor vierundsechzig Millionen Jahren war sie dann wieder vorbei (Champagne, südliches Cognac, Touraine, Anjou) und mit ihr auch dieses ganze Mesozoikum, was war. Indem dass die Dinosaurier ausgestorben sind, sagt man. Und weil auch in der Geologie alles recht kompliziert zu sein scheint, nennt man den ein bissl älteren Kalk aus dem Kimmeridge (von vor hundervierundfünfzig Millionen Jahren bis Beginn der eigentlichen Kreidezeit vor hundertfünfunddreißig Millionen Jahren (Chablis, Sancerre, Jongieux) auch Kreide.

Die Vorsichtigen und die Lauten

Vor gut hundert Jahren haben zwei französische Wissenschaftler die Bedeutung der Kreide in Nordostfrankreich erkannt. Das waren halt Wissenschaftler. Und Wissenschaftler sind oft vorsichtig und leise, vor allem kompetente Wissenschaftler. Einem Engländer war es dann vorbehalten, knapp nach der vorletzten Jahrhundertwende die Phantasie der Menschen in Sachen Kreide zu beflügeln. In „Über ein Stück Kreide“ hat Thomas Huxley anschaulich gemacht, dass Kreide ein dreidimensionales Puzzle aus den Schalen ziemlich vieler Mikroorganismen ist. Aber Vouvray, Champagner, Cognac, Marestel, Sancerre und Chablis sind auch vorher schon auf Kreide gewachsen. Vielleicht sollte man das bedenken, bevor man der Kreide die Schuld in die Schuhe schiebt.

Darum diese Woche ausschließlich am Freitag ein Vouvray und ein Gumpoeds von einem Terroir aus der eigentlichen Kreidezeit, sowie ein Chablis und zwei Marestel von Kreide aus dem Kimmeridge glasweise:

Vouvray Le Mont sec 2013, Domaine Huet, AOC Vouvray

Biodynamischer Chenin Blanc vom berühmten Tuffeau

Chablis Vaillons 1er Cru 2007, Domaine Bègue, AOC Chablis Premier Cru

Sehr spät hat es Monsieur Rudolf letztes Jahr endlich nach Chablis geschafft. Davon zeugt seither das K im Rebstockschriftzug auf der Wand in der Weinhandlung Rudolf Polifka et Fils. Das hat er nämlich in der Grand Cru Lage Grenouilles gefunden. Und ein paar Flascherl Chablis haben sie ihm dann doch verkauft. Aber alles in allem hat es Caviste Rudolf noch nirgends so schwierig, um nicht zu schreiben unmöglich, gefunden, Wein zu kaufen wie in Chablis. An der Côte d’Or kann man bei den ganz ganz prominenten Weinbauern auch nicht mir nix dir nix in den Keller marschieren und Wein kaufen, aber es gibt deren Weine bei Cavisten vor Ort. Und die nicht so bekannten verkaufen eh ab Hof. In Chablis führen die drei Cavisten im Ort ein paar Weine der fast berühmten Winzer und verkaufen tun nur die Großbetriebe mit einem Geschäftslokal im Zentrum, beziehungsweise die Genossenschaft. Wenn man dann glaubt, dass es im nahegelegenen Auxerre anders ausschaut, hat man sich ordentlich getäuscht.

Marestel 2010, AOC Roussette de Savoie, Domaine Dupasquier

Irgendwann vor dreißig Jahren war eine Zeit, da hat ein Flug nach London noch mehr als eine Kiste Bier gekostet. Und da hat man auch nicht mit dem Zug unter dem Ärmelkanal durch düsen können. Als junger Mensch hat man sich damals wie ein kleines Kind gefreut, wenn man endlich einmal ohne Eltern auf Urlaub fahren dürfen hat. Und gar nicht so selten hat man sich im Anschluss daran wie ein kleines Kind gefreut, wenn man wieder daheim war. Geheißen hat das Ganze auf alle Fälle „auf Interrail fahren“. Fragen Sie den Rudl jetzt bitte nicht, was vor allem die Präposition da bedeutet hat. Auf alle Fälle sind die, die in erster Linie alkoholische Getränke konsumieren und in zweiter Linie schön werden wollten, tendenziell nach Italien, Griechenland oder Spanien auf Interrail gefahren. Und die, die in erster Linie alkoholische Getränke konsumieren und in zweiter Linie Langspielplatten kaufen wollten, hat es eher in Richtung Londoner Victoria Station gezogen. Letztere waren zwar mit dem Problem konfrontiert, dass ihr gesamtes mitgeführtes Gewand permanent feucht, manchmal auch waschelnass war, aber sie sind dafür entschädigt worden. Zuerst einmal mit dem Anblick der weißen Kreidefelsen von Dover. Die es eilig gehabt haben, vom Hoovercraft Luftkissenboot aus, die anderen von der Fähre aus. Jetzt einmal abgesehen von der Schule ist das für viele junge Menschen die erste Begegnung mit Kreide gewesen, visuell betrachtet.
Geschmacklich schaut die Geschichte mit der Kreide anders aus. Da erfolgt der Erstkontakt in Österreich vermutlich meistens mit einem Wein vom Kahlenberg oder vom Nussberg, vielleicht auch mit einem Gumpoldskirchner, in nobleren Kreisen vielleicht mit Champagner, eher selten mit Chablis oder Sancerre. Das wird beim Rudl nicht anders gewesen sein.
Aber dass Wein viel mit Steinen zu tun hat, das ist ihm bei seinem ersten Besuch bei der Domaine Dupasquier in Jongieux deutlich geworden. Berühmter Wein wächst oft dort, wo sonst nichts wächst. Das hat Herr Rudolf schon gewusst. Aber derartig steile, weiße Felsen mit derartig keinem (sichtbaren) Humus waren sicher auch ein Grund, warum diese Landschaft mit ihren Weinen Herrn Rudolf nie mehr losgelassen hat.
Der Cru Marestel ist benannt nach dem Berater und Lieblingskellner von irgendeinem savoyardischen Oberjass. Ausschließlich Altesse darf dafür verwendet werden. Der Marestel von Dupasquier wird im großen Holzfass ausgebaut und kommt vier Jahre nach der Lese in den Verkauf.

Fleur d’Altesse 2009, Domaine Dupasquier, AOC Roussette de Savoie

In besonders begünstigten Jahren lassen Noël Dupasquier, sein Sohn und seine Schwiegertochter die ganz alten Stöcke ihres besten Weingartens hängen, bis sie überreif sind. Dann werden sie vorsichtig gelesen, genauso gepresst und der Most vergärt so langsam, dass ein Schweinswangerl während der Zubereitung daneben geradezu wie ein Hudler dastehen würden. Savoyen gilt zurecht nicht als Süßweineldorado. Dass sich der Fleur d’Altesse 2009 von Dupasquier vor den Sauternes, den Jurançons oder einer Sélection de Grains Nobles aus dem Elsass verstecken muss, findet Caviste Rudolf Polifka aber nicht.

Zierfandler 2015, Friedrich Kuczera, Gumpoldskirchen, Thermenregion

Dem Rudl seine ganz persönliche Wiederentdeckung des Jahres 2014. Zierfandler aus dem großen Holzfass, niedrig im Alkohol, elegant in der Aromatik und – das ist gerade Gegenstand der Rudl’schen Forschung – vermutlich auch ziemlich langlebig, weil lebendig. Seit allerweil schon biologisch und gewachsen auf dem Kreidekalk der Ausläufer des Wiener Waldes.

Diese fünf weingewordenen Kreiden:
Vouvray Le Mont sec 2013, Domaine Huet, AOC Vouvray
Chablis Vaillons 1er Cru 2007, Domaine Bègue, AOC Chablis Premier Cru
Marestel 2010, AOC Roussette de Savoie, Domaine Dupasquier
Fleur d’Altesse 2009, Domaine Dupasquier, AOC Roussette de Savoie
Zierfandler 2015, Friedrich Kuczera, Gumpoldskirchen, Thermenregion

… aber nicht ausschließlich diese fünf Weine gibt es glasweise

am Freitag, den 6. Mai
von 16 bis 22 Uhr
in der Weinhandlung Rudolf Polifka et Fils, Reindorfgasse 22

Herr Rudolf grüßt die Kalkalpen, die pannonische Tiefebene und die Gehsteigkante, auf der die einen in die andere übergehen, wenn es nach dem Kurtl geht!